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Augen für das Unsichtbare
Es war einmal ein Mann, der hatte eine wunderbare Rinderherde. Alle Tiere trugen ein schwarz-weißes Fell, das geheimnisvoll war wie die Nacht. Der Mann liebte seine Kühe und führte sie immer auf die besten Weiden. Wenn er abends die Kühe beobachtete, wie sie zufrieden waren und wiederkäuten, dachte er: morgen früh werden sie viel Milch geben. Eines Morgens jedoch, als er seine Kühe melken wollte, waren die Euter schlaff und leer. Er glaubte, es habe an Futter gefehlt, und führte seine Herde am nächsten Tag auf saftigen Weidegrund. Er sah, wie sie sich satt fraßen und zufrieden waren, aber am nächsten Morgen hingen die Euter wieder schlaff und leer. Da trieb er die Kühe wiederum auf eine neue Weide, doch auch diesmal gaben sie keine Milch. Jetzt legte er sich auf die Lauer und beobachtete das Vieh. Und als um Mitternacht der Mond weiß am Himmel stand, sah er, wie sich eine Strickleiter von den Sternen heruntersenkte. Auf ihr schwebten sanft und weich junge Frauen aus dem Himmelsvolk herab. Sie waren schön und fröhlich, lachten einander leise zu und gingen zu den Kühen, um sie zu melken. Da sprang er auf und wollte sie fangen, aber sie stoben auseinander und flohen zum Himmel hinauf. Es gelang ihm aber, eine von ihnen festzuhalten, die allerschönste. Er behielt sie bei sich und machte sie zu seiner Frau. Täglich ging nun seine neue Frau auf die Felder und arbeitete für ihn, während er sein Vieh hütete. Sie waren glücklich und die gemeinsame Arbeit machte sie reich. Eines aber quälte ihn: Als er seine Frau eingefangen hatte, trug sie einen Korb bei sich. Niemals darfst du da hineinschauen, hatte sie gesagt. Wenn du es dennoch tust, wird uns beide großes Unglück treffen. Nach einiger Zeit vergaß der Mann sein Versprechen. Als er einmal allein im Hause war, sah er den Korb im Dunkeln stehen, zog das Tuch davon und brach in lautes Lachen aus. Als seine Frau heimkehrte, wusste sie sofort, was geschehen war. Sie schaute ihn an und sagte weinend: Du hast in den Korb geschaut! Der Mann aber lachte nur und sagte: Du dummes, dummes Weib, was soll das Geheimnis um diesen Korb? Da ist ja gar nichts drin! Aber noch während er dies sagte, wendete sie sich von ihm ab, ging in den Sonnenuntergang und wurde auf Erden nie wieder gesehen. Und wisst ihr, warum sie wegging? Nicht, weil der Mann sein Versprechen gebrochen hatte. Sie ging, weil er die schönen Sachen, die sie vom Himmel für beide mitgebracht hatte, nicht sehen konnte und darüber sogar noch lachte.
Was hätte der Mann denn wohl in dem Korb entdecken können? – Liebe, Freundschaft, Wertschätzung, Dankbarkeit, Mitgefühl, Verständnis, … alles unsichtbare Schätze, die jeder von uns bei sich trägt. Unsichtbar – doch lebensnotwendig.
Nur sehen wir sie eben meist nicht. Nicht bei uns selbst und auch nicht beim anderen.
Lasst uns heute doch mal Körbe öffnen und genau hinsehen – vielleicht kommt dabei der ein oder andere ungeahnte Schatz zum Vorschein!